BS-Beitrag Oktober 2019
Schiitische Milizen verursachen die Destabilisation Iraks und damit ein erneutes Erstarken des Daesh, getreu dessen Motto „Remaining and Expanding“. 30.000 Daesh-Krieger lassen mit der Operation „Soldiers Harvest II (B)“ weltweit neue Anschläge erwarten.[1] Ungewollt hilft dem Kalifen al-Baghdadi dabei die „slow-motion-strategy“ der Anti-ISIS-Allianz – und die Depriorisierungspolitik der USA.
Als der Daesh 2014, taktisch gut vorbereitet und überfallartig, weite Gebiete in Syrien und im Irak eroberte und im Juni in Mosul sein Kalifat ausrief, war insbesondere die überforderte irakische Regierung dankbar für jede Hilfe. Diese kam u.a. in Form des Zusammenschlusses von rund 60 Milizen und Rebellengruppen, zumeist schiitischen Glaubens, die sich fortan Popular Mobilization Forces nannten (PMF), auch als Units (PMU), bekannt, auf arabisch al-Hashd al-Shaabi)[2]. Auslöser dieses Zusammenschlusses war eine „Fatwa“[3], die Sayyid Ali al-Husseini al-Sistani, der geistliche Führer aller irakischen Schiiten, erließ, in welcher er den Kampf gegen den Daesh als religiöse Pflicht befahl.
Die PMF erreichte schnell eine beachtliche Gesamtstärke von bis zu 150.000 Mann, wurde im November 2016 sogar gesetzlich dem irakischen Militär gleichgestellt und untersteht formell, d.h. nur auf dem Papier, direkt dem irakischen Premierminister. In Wirklichkeit wurde und wird sie aber ganz wesentlich vom Iran gesteuert. Genauer: Von der Elite- und Expeditionseinheit der Iranischen Revolutionsgarde (IRGC), der Al-Quds-Brigade, und deren legendären Kommandeur, Generalmajor Quassam Suleimani. Er gilt als mächtigster Mann („schiitischer Supermann“), da er zusätzlich die Aktivitäten fast aller Terrorgruppen der Region koordiniert, die nicht unmittelbar der Al-Qaida oder dem Daesh angehören, insbesonder
- der Palestinian Islamic Jihad (PIJ) mit ihren terroristischen Al-Quds Brigaden (auf der Sinaihalbinsel);
- der Qassam Brigaden (der militärische Arm der Hamas im Gaza);
- der Nasser Salahuddin Brigaden (im Gaza, auch bekannt unter dem Namen Al-Nassar Salah al-Deen, die übrigens einen beachtlichen, dreistelligen Anteil militärisch voll ausgebildeter weiblicher Kämpfer aufweist);
- der Al-Aqsa Märtyrer (der militärische Arm der Fatah in Palästina);
- der Märtyrer-Abu Ali Mustapha-Brigaden (der militärischer Arm der marxistisch-leninistischen Volksfront zur Befreiung Palästinas, PFLP, aktiv in Gaza, Jerusalem, Westjordanland, Jordanien);
- der Kata’ib Hezbollah (offiziell Teil der PMF, jedoch auch eine schiitische Terrorgruppe im Irak, die u.a. 2015/16 eine 26-köpfige katarischen Jagdgesellschaft, darunter neun Prinzen des Königshauses, kidnappte und nach Verhandlungen, übrigens unter der Führung von Suleimani, damit u.a. ein legendäres Lösegeld von 1,36 Milliarden USD erpresst haben soll).
Der Iran unterstützt weltweit den Terrorismus und destabilisiert den Irak
Allein daraus lassen sich schon Bandbreite und Tiefe iranischer Aktivitäten zur Unterstützung des Terrorismus erahnen, zu denen neben Führung, Koordination, Kooperation und Kommunikation auch die Proliferation von Kriegswaffen aller Art und, vor allem, die Terrorfinanzierung zählen.
Im Kampf gegen den Daesh war die PMF für die irakische Regierung zunächst von immenser Bedeutung – und auch erfolgreich: Stadt um Stadt wurde zurückerobert, Daesh-Kämpfer eliminiert oder festgenommen, die eroberten Gebiete nachhaltig gesichert. Große Teile Nordiraks und die größeren Städte wie Mosul, Bashiqa oder Niniveh[4] werden heute größtenteils von der 30. Brigade der PMF kontrolliert, die als eine der härtesten und „iranischsten“ aller Milizen gilt und angeblich finanziell direkt vom Iran unterstützt wird. Ungewollte Hilfe kam von den USA: Ihre ab 2018 verfolgte „slow-motion-strategy“ im Kampf gegen den angeblich besiegten Daesh schuf erst den Freiraum für die PMF und deren iranischen Expansionskräfte – ein Kollateralschaden erster Güte. Der aktuell geplante (und dann fatale) US-Truppenabzug und die unzureichende humanitäre Hilfe für die nordirakische Bevölkerung verschärfen diese Lage noch.
Das wahrlich noch ernstere Problem: Die ideologische Bindung der meisten der irakischen PMF-Führer an den Iran, d.h. die bedingungslose Anerkennung der Autorität von Irans obersten Führer, Ajatolllah Sejjed Ali Khamenei. Obwohl Iraks Premierminister die PMF aufforderte, sich in die irakische Armee (ISF) zu integrieren, weigerten sie sich beharrlich mit der Begründung, diese sei nur eine Marionetten-Armee der USA. Selbstherrlich lehnten sie weitgehend jegliche Kooperation mit den ISF ab, wehrten sich sogar mit Waffengewalt gegen die angeordnete Übergabe von check-points an die ISF. Auch der jüngsten Forderung des irakischen PM Adel Abdul-Mahdi, sich bis zum 31.07.2019 der eigens dafür gebildeten irakischen Gendarmerie anzuschließen, wurde ignoriert, da auch diese dem Verteidigungsministerium unterstehe. Die PMF-Milizen sind damit nun auch statusrechtlich „Kriminelle“. Gleichwohl planten sie jüngst sogar den Aufbau einer eigenen Luftwaffe, deren Verwirklichung kurz bevorsteht. Die von (angeblich) moderaten Führungskräften der PMF geforderte zusätzliche Zeit, um eine geordnete Übergabe der Sicherheitsfunktionen an staatliche Instanzen vorzubereiten, dürfte wohl eher nur ein Manöver sein, um Zeit zu schinden. Warnungen, dass die PMF sich zu einer Organisation ähnlich der Iranischen Revolutionsgarden entwickelt, gab es schon früh – sie verhallten ungehört. Das geopolitisch hochgefährliche Problem der iranischen „Quasi-Besatzung“ des Irak bleibt ungelöst, der Premierminister Adil Abd al-Mahdi verliert zunehmend an Rückhalt und höchste schiitische irakische Würdenträger verhandelten Mitte September bereits Irans höchstem Führer Khamenei – eine hochbrisante Entwicklung.
Weltpolitisch noch gefährlichere, geradezu bellizistische Signale sind zudem die mysteriösen Drohnenangriffe auf PMF-Waffenlager im Großraum von Bagdad, von denen mindestens drei allein für die Zeit von Juli bis August 2019 bekannt wurden[5]. Die Verursacher sind bis heute unbekannt, denn es gibt keine öffentlichen Selbstbezichtigungen. Viele Analysten vermuten hinter diesen Angriffen zwar Israel mit US-Unterstützung (um die Dominanz iranischer Proxy-Kräfte in den PMF zu schwächen), andere aber den Daesh (um den erneuten Aufbau eines Kalifats im Irak zu forcieren), nur einige Wenige vermuteten gar konkurrierende PMF-Einheiten (um damit die Kontrolle in der PMF zu erlangen).
Sollte sich die erste, die wahrscheinlichste Vermutung bestätigen, könnte sich Israel in Kürze an mehreren Fronten kriegerischen Auseinandersetzungen gegenübersehen, zunächst wohl „nur“ mit iranischen Proxys[6]. Doch lassen die jüngsten, begründeten israelischen Drohnenangriffe, z.B. im August 2019 auf iranische Militärbasen in Syrien, im Nordirak oder auf die vom Iran der Hisbollah gelieferte Fabrik im Libanon, in der wichtige Komponenten für zielgenaue Raketen hergestellt werden („planetary mixer“) Schlimmeres befürchten. Die Kriegsvorbereitungen laufen jedenfalls derzeit überall auf Hochtouren.
Der Irak steht in einem extremen Spannungsverhältnis – von Kirkuk bis Bagdad.
Einerseits leidet der Nordirak unter der zunehmend krimineller werdenden „Okkupation“ durch iranische Proxy-Krieger der PMF. Die Berichte über ihr Verhalten, insbesondere gegenüber der sunnitischen Zivilbevölkerung, sind alarmierend: Gewalttaten, Morde, Korruption und illegale Bereicherung, insbesondere von Wohnungs-/Geschäftseigentum und Immobilien geflohener Sunniten. Sogar von Massengräbern ist die Rede, in einem sollen 80 von der PMF ermordete Sunniten verscharrt worden sein. Inzwischen haben die Milizionäre mafiagleiche Strukturen und Verhaltensmuster entwickelt, z.B. müssen die Familien für nachts anlasslos gekidnappte Verkehrsteilnehmer horrende Lösegelder für deren Freilassung zahlen, Geschäftsinhaber müssen für den „störungsfreien“ Betrieb ihrer Unternehmen Schutzgelder zahlen, internationale Hilfsgelder für den Aufbau Iraks werden für private Zwecke abgezweigt. Derartiges Verhalten empört die sunnitische Bevölkerung zutiefst, ihre Ohnmacht und Wut treibt viele wieder in die Arme des Daesh.[7]
Anderseits erlebt insbesondere der Norden des Irak einen sich neu organisierenden Daesh, ein gefährlicher Mix aus lokalen Daesh-Kämpfern, die in operativen Zellen die Vernichtung ihres „physischen Kalifats“ überlebten und solchen, die schon seit 2017 insbesondere aus syrischen Kampfgebieten auftragsgemäß in den Irak einsickerten, um sich in die terroristischen Zellstrukturen einzugliedern[8]. Gemeinsam bereiten sie derzeit mit USBV-Anschlägen (Spezialitäten: VBIED, Fahrzeugbomben, und SVEST, Sprengstoffwesten), „Sniper“-Attacken, Morden und Geiselnahmen den Wiederaufbau ihres Kalifates vor, wobei sie gezielt und massiv gegen örtliche Verantwortungsträger aus Politik und Verwaltung und gegen Sicherheitskräfte vorgehen.
Diese Lagebeurteilung wird nun auch von den jüngsten Berichten der USA[9] und der Vereinten Nationen[10] bestätigt. Darin wird bestätigt, dass in Syrien und im Irak rund 30.000 Daesh-Kämpfer agieren[11], vor allem sich im Irak neu organisieren und bewaffnen. Systematische Vorbereitungen lassen eine erneute Gewaltoffensive des Daesh erwarten: Im ländlichen Raum werden Dorfälteste und Zivilisten, die mit Anti-ISIS-Forces zusammenarbeiteten, zu Dutzenden eliminiert, in größeren Städten sollen Anschlagsserien die Bevölkerung und staatliche Einrichtungen zermürben. Speziell im Irak, aber, im Rahmen seiner „Global-Guerilla-Strategy“, auch mit weltweit verübten Anschlägen soll die neue Daesh-Operation “Soldiers Harvest II (B)”[12] der terroristischen Bewegung neuen Auftrieb geben. Die fürchterliche und unerwartete Anschlagsserie am Ostersonntag 2019 in Sri Lanka war dafür Auftakt und Ausrufezeichen!
Geld spielt offensichtlich keine Rolle, das Daesh-Konto beträgt je nach Quelle immer noch zwischen 300 und 450 Millionen USD. Die Kosten für die Unterhaltung des Kalifates sind jetzt entfallen. Dafür füllen Steuereinnahmen (zakats), Zwangsgebühren, Schutz- und Lösegelder in den 2018/19 wieder eroberten irakischen Gebieten die Kriegskasse (z.B. in den Provinzen von Kirkuk, Diyala, Salah ad-Din oder Ninewa). Gleichzeitig wächst einerseits die Unterstützung für den Daesh, insbesondere solange die PMF ihr kriminelles Verhalten nicht aufgibt und sich nicht in die offiziellen Sicherheitsbehörden Iraks integrieren lässt, andererseits das Misstrauen gegen die irakische Regierung, ihre Verwaltung und die Sicherheitskräfte. Die Rekrutierung neuer Kämpfer aus dem Heer der Unzufriedenen und Unterdrückten ist dann ein Leichtes.
Alte Kämpfer gibt es zudem zu Tausenden, sozusagen „auf Halde“, verborgen unter den Hundertausenden Binnenflüchtlinge (Internal Displaced Persons- IDP) in den riesigen IDP-Camps (z.B. in Al-Hawl, Daquq oder Tel Kayf), unter den Insassen der total überfüllten Gefängnissen (z.B. in Hammam al-Alil, Qayyarah, Shirqat oder Tikrit) – und auch unter den Kriegsflüchtlingen, Migranten und Asylbewerbern, die nach Europa kamen. Überall werden sie weiter agitieren, missionieren, indoktrinieren, rekrutieren und ihre Zellen neu organisieren, ganz nach ihrem Motto: „Baqiya wa Tatmaddad“ (Gekommen, um zu bleiben). Man beachte: Diese Analyse behandelt im Kern nur die irakische Dimension des „come back“!
Endnoten:
[1] http://www.understandingwar.org/report/isiss-second-comeback-assessing-next-isis-insurgency
Die am 31.05.2019 verkündete Daesh-Operation wurde zunächst bekannt als „Battle of Attrition“ (Zermürbungskampf); ISW korrigierte sich jedoch am 23.07.2019: Die Daesh-Operation heißen von Juli 2018 bis Mai 2019 “Soldiers Harvest II (A) und von Mai 2019 an “Soldiers Harvest II (B)
[2] https://www.wilsoncenter.org/article/part-2-pro-iran-militias-iraq vom 27.04.2018
[3] Eigentlich eine religiöse Rechtsauskunft, sie steht jedoch häufig im Range eines Gesetzes
[4] Deutsche Welle v. 07.08.2019
[5] https://www.arabnews.com/node/1527981/middle-east vom 19.7.2019
[6] Hamas und der Islamic Jihad im Gaza Streifen; Die schiitischen PMF im Irak; Die Al-Quds Brigaden der IRGC im Iran, in Syrien oder im Irak; Die Hisbollah im Libanon oder in Südafrika, oder in Indien, oder in Aserbeidschan oder wo sonst sie in der Vergangenheit nachgewiesen hat, zuschlagen zu können; Auf jeden Fall will der Iran, dass Israel neben dem Gazastreifen und dem Libanon eine weitere Front zu Syrien bekommt, die ihn schwächen soll.
[7] https://intelnews.org/2019/06/27/01-2576/
[8] Der ISW-Bericht benennt 11 Zonen, in denen sich Daesh-Kämpfer in den Irak zurückzogen.
[9] Pompeo, 30.08.2019, UN Security Council Session on Middle East Peace and Security, wo er die Bedeutung des neu geschaffenen Warschau-Prozesses und seiner sieben Arbeitsgruppen betonte (cybersecurity, human rights, maritime and aviation security, energy security, missile proliferation, counterterrorism, and humanitarian issues and refugees). Weiterhin: DIA-Report, zitiert in ISW: ISIS’s Second Comeback: Assessing the Next ISIS Insurgency; Quelle: http://www.understandingwar.org/report/isiss-second-comeback-assessing-next-isis-insurgency
[10] UN-Report Aug 5, 2019, Guterres: “Daesh has as much as $300m to keep fighting”
[11] https://intelnews.org/2018/08/15/01-2376/
[12] http://www.understandingwar.org/report/isiss-second-comeback-assessing-next-isis-insurgency
Die am 31.05.2019 verkündete Daesh-Operation wurde zunächst bekannt als „Battle of Attrition“ (Zermürbungskampf); ISW korrigierte sich jedoch am 23.07.2019: Die Daesh-Operation hießen von Juli 2018 bis Mai 2019 “Soldiers Harvest II (A) und von Mai 2019 an “Soldiers Harvest II (B)
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