BS-Beitrag Mai 2019
Die kriminologische Forschung zu dem Thema, wie jemand zum Terroristen wird, verdichtet sich. Die am häufigsten angewandte Methode, die zum Einsatz kommt, ist eigentlich einfach und gehört zum Repertoire jeglicher wissenschaftlichen Arbeit: Das Interview. In diesem Falle die Befragung der gefassten Terroristen selbst. Dieser Selbstauskunft muss man jedoch mit angemessener Skepsis begegnen, denn schließlich versuchen die Terroristen in aller Regel, ihre Rolle im Dschihad zu beschönigen, ihr Engagement kleinzureden und ihre Verbrechen zu verschweigen. Das ist eindrucksvoll in der jüngsten Medienberichterstattung[1] zur Rückkehr gefangener Islamisten und deren Familien zu sehen: Fast jeder will angeblich nur im Sanitätsdienst gewesen sein, sich nur um die kommunale Verwaltung gekümmert oder handwerkliche Arbeiten geleistet haben. Die BKA-Beamten vor Ort haben es zur Zeit schwer, die tatsächliche Beweislage für die eventuelle Rückführung deutscher Terroristen anhand von unbestechlichen Sachbeweisen (Fotos, Videos, Urkunden, forensischem Material, digitale Daten in den sozialen Medien, etc.) oder Zeugenaussagen zu untermauern. Derartige Ermittlungen wären schließlich auch für einen speziellen „Internationalen Strafgerichtshof Daesh/ISIS“ durchzuführen, den Bundesinnenminister Horst Seehofer jüngst in die Diskussion brachte. Ob sich diese Idee durchsetzen kann, ist fraglich: Die völkerrechtliche Problematik der konkurrierenden nationalen Jurisprudenz von Syrien oder dem Irak sei hier nur angedeutet.
Die Psychiaterin Dr. Anne Speckhardt hat das Ergebnis ihrer 10-jährigen weltweiten Forschungen zu den psycho-sozialen Motivationen dschihadistischer Terroristen und Selbstmordattentätern 2012 in ihrem damals einzigartigen Buch „Talking to Terrorists“ (frei übersetzt: Gespräche mit Terroristen) veröffentlicht. Über 400 Interviews hatte sie geführt mit Terroristen, deren Verwandten und Bekannten und sogar mit einigen deren Geiseln, um zu lernen, welche Manipulationen menschlicher Schwächen dazu führten, dass Menschen radikalisiert, rekrutiert und zu Terroristen werden. Es ging ihr darum, die „Enigma terroristischer Gewalt“ zu entschlüsseln, um daraus ggf. intelligente Counter-Terrorismus-Strategien, Präventions-, De-Radikalisierungs- und Rehabilationsprogramme abzuleiten. Das Buch wurde in der wissenschaftlichen Welt hoch gelobt und es kam sozusagen just in time; schließlich war die Welt noch von den orchestrierten Al-Qaida-Anschlägen vom 11.09.2001 auf New York City und Arlington erschüttert (bekannt als „9/11“). Aber die Lehren des Buches wurden leider nicht, nicht rechtzeitig und schon gar nicht umfassend gezogen: Es verhallte, schlimmer: unmittelbar danach gewannen die AQ-Terroristen ungehindert noch viel mehr Anhänger und bauten ihre „Filialen“ weiter aus oder gründeten neue. Daneben gründeten fanatische abtrünnige „Konkurrenten“ den noch viel grausameren Daesh, der sich am 23.06.2014 selbst zu einem „Islamischen Staat“ ausrief, unter Führung des Kalifen Ibrahim, dem sich alle Muslime der Welt unterzuordnen hätten. Der islamistische „Blitzkrieg“ (2010 bis 2014) hatte eine enorme Sogwirkung, viele islamistisch-terroristische Splittergruppen schworen den Treueeid auf den Kalifen und unterstellten ihre Einheiten als „IS-Provinzen“ dem Kommando. Zunehmend dominierte in dieser Entwicklung das religiöse Thema, schuf weltweit die Basis für die beiden Hauptströmungen des sunnitischen islamistischen Terrorismus (daneben darf aber auch noch der schiitische islamistische Terrorismus nicht vergessen werden), rechtfertigte selbst die grausamsten Gräueltaten und bildete mit seiner „Märtyrer-Ideologie“ die Motivation für Tausende Selbstmordattentäter, die sozusagen als Tête einer „kosmischen Terrorbewegung“[2] gelten, einem vermeintlich göttlichen Diktat
(„Army of God“) oder einer „fiktiven Kinship“ folgend.
Vor einigen Jahren begann Professor Peter Neumann, einer der profiliertesten europäischen Terrorexperten, mit Mitarbeitern seines 2008 gegründeten International Centre for the Study of Radicalisation (ICS) am Londoner King’s College der Frage der Radikalisierung durch vertiefende Studien nachzugehen. Viele seiner Publikationen beschäftigen sich mit diesem Thema[3], seine Expertise floss in viele politischen Entscheidungen auf UN-, OSZE- oder EU-Ebene ein, sein fundierter Ratschlag wird von vielen Regierungen, Universitäten und NGO gesucht und geschätzt. In den Jahren von 2012 bis 2017 analysierten er und sein Team die Lebensläufe von 800 europäischen terroristischen Kämpfern einschließlich deren „digitalen Fußabrücke“ in den sozialen Medien. Auch er stellte in einer Studie von 2014[4] fest, dass die Radikalisierung zwar nicht ausschließlich online erfolge aber dass das Internet eine sehr komplexe und bedeutsame Rolle spiele, als Informations- und Propagandaplattform; aber auch als Medium der Anwerbung und Indoktrination, einer Art digitalen Gehirnwäsche bei den jeweiligen „Followers“, durchgeführt durch einige wenige Führungsfiguren[5], meist via Facebook, Twitter, YouTube oder ähnlichen Kanälen. Die Vorgehensweise sei in den meisten Fällen eher subtil. Direkte Aufrufe zur Gewalt oder zur Teilnahme am Dschihad seien inzwischen seltener. Eher werde mit prinzipiellen, ideologisch-moralischen Argumenten ein schlechtes Gewissen suggeriert, nicht an diesem Kampf (gegen Assad, gegen die westlichen Besatzungsmächte, gegen die Tötung von Zivilisten durch Drohnen, gegen die Unterdrückung von Muslimen, etc.) teilzunehmen. Aber erst durch soziale Kontakte vor Ort, sozusagen „offline“, trete die Radikalisierung in die entscheidende Phase. Erst der persönliche Kontakt in der wirklichen Welt, mit dem verständnisvollen “Bruder“, innerhalb der liebevollen Gruppe gewaltbereiter Islamgläubigen, schaffe den Durchbruch in der Radikalisierung. Daher sei der Kampf gegen die Provider im Internet, Hetze, Gewaltaufrufe, Terrorismuspropaganda oder -finanzierung zwar weiterhin wichtig, aber eben nur die eine, die sicht- und leichter bekämpfbare Seite der Medaille. Der Kampf um die Herzen und Hirne verführbarer Menschen ist weit breiter, früher und intensiver anzulegen, um „Geburt“ weiterer Foreign Terrorist Fighter (FTF) oder HVE zu verhindern.
Leider gibt der neue ICSR-Report von 2019 („From Daesh to Diaspora“)[6] keine detailliertere Auskunft über die persönlichen, individuellen Beweggründe der letztlich 41.490 Personen aus 80 relevanten Staaten, die das Terrorreich des Daesh vor Ort zumindest „unterstützen“ wollte; schließlich war Ziel der Untersuchung, Aussagen über Frauen und Minderjährige machen zu können, denen recht allgemein ein Bündel diverser Beweggründe und diem allgemeinen die gleiche ideologische Motivation zugeschrieben wurde, wie den Männern[7]. Gleichwohl können dank der hervorragenden und umfassenden Datenerhebung und trotz der z.T. beachtlichen Datenlücken wichtiger Länder auch aus dieser Untersuchung Erkenntnisse abgleitet werden, die für Präventions-, De-Radikalisierungs- und Rehabilisierungsprogramme geeignet sind.
Auch die jüngste internationale Publikation zum Worldwide Threat Assessment oft he US Intelligence Comunity berührt dieses Thema[8] in seinem Kapitel über die in den USA aufgewachsenen Terroristen, die von den US-Behörden unter dem Kürzel HVE geführt werden (Homegrown Violent Extremists) und die inzwischen als große Gefahr für die amerikanische Gesellschaft erkannt worden sind.
[1] Zuletzt im Spiegel Nr. 13 vom 23.03.2019, wo über 59 inhaftierte Islamisten mit deutschem Pass berichtet wird, drei Viertel seien Frauen. Gegen 20 Deutsche seien Haftbefehle des GBA oder der Landesjustizverwaltungen erlassen worden. Die kurdischen Wächter, so andere Medien, schätzen die monatlichen Kosten für je einen Gefangenen auf 20.000 USD und fordern Rücknahme oder finanzielle Entschädigung von den Heimatstaaten – ansonsten droht ungeregelte Freilassung.
[2] Juergensmeyer, M.: ”The Terror in the Mind of God: The Global Rise of Religion Violence” (2000)
[3] https://icsr.info/?team=prof-peter-neumann, abgerufen am 15.04.2019
[4] https://www.bbc.com/news/uk-40161333 vom 05.06.2017
[5] Klassische Top Führungsfiguren sind z.B. :Anjem Choudary, London, UK; Ahmad Musa Jibril, Michigan/USA; Yusuf al-Qaradawi, Doha/Katar
[6] From Daesh to Diaspora, ICSR 2019, Tracing the Women and Minors of Islamic State.pdf
[7] “Women have been often noted to be similarly as ‘ideologically motivated’ as males”.
Quellen: Anita Peresin, and Alberto Cervone, “The Western Muhajirat of ISIS”, Studies in Conflict & Terrorism 38, no. 7(2015): 500; Mia Bloom, and Charlie Winter, “The Women of ISIL”, Politico, 12 July, 2015, https://www.politico , eu/article/the-women-of-isil-female-suicide-bomber-terrorism/
[8] World Wide Threat Assessment oft he US Intellgence Community, Daniel R. Coats, Dierector of National Intelligence, 29.01.2019
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