Ägyptens „Wilayat Sinai“ – der stärkste internationale Arm des Daesh?

20. Juni 2021

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Uwe G. Kranz

BS-Beitrag Februar 2018

Immer wieder wiesen Experten auf die strategische Fähigkeit des Daesh zur ständigen Metamorphose hin, welche dieser insbesondere im Zuge des Auf- und Niedergangs seines Kalifates in der „syrakischen“ Region bewies. Nur noch rund 1.000 Daesh-Kämpfer sollen Anfang 2018 im riesigen, unübersichtlichen „Mittleren Euphrat-Flusstal“ (engl. Acronym: MERV) oder im Wüstengebiet entlang der syrisch-irakischen Grenze aktiv sein.

Kleinerer Daesh-Terrorzellen und die al-Qaida nahe stehende Terrorgruppe „Hayat Tahir al-Sham“ (HTS -ehemals Jabhat al-Nusra) verüben Guerilla-Angriffe im Nordwesten Syriens auch gegen die Rebellengruppen[1] – nach einer wachsenden Anzahl von Experten-Berichten angeblich auch in Kooperation und mit Unterstützung der syrisch-russisch-iranischen Koaltion – was auch Klage der syrischen Opposition in den „Friedensgesprächen“ am 21. und 22. Dezember 2017 in Astana, Kasachstan war). Eine explosive Gemengenlage mit Langzeitwirkung!

Der Daesh ist also allenfalls militärisch und schon gar nicht endgültig besiegt, wie der irakische Premierminister Haider al Abadi im Dezember 2017 stolz  erklärte. Auch in der Provinz Kirkuk zum Beispiel übernahm die irakische Armee die Macht von den Kurden, die den Daesh in der ölreichen Gegend besiegt und vertrieben hatten. Über 80 Dörfer und Städte wurden in diesen Kämpfen zerstört. Der Irak betreibt nunmehr eine „Arabisierung“ der Region und versucht nun, die kurdische Bevölkerung zu vertreiben. In dieser diffusen Machtkonstellation erwächst der Daesh erneut – verständlich, wenn man bedenkt, dass dort einst rund 3.000 Kämpfer stationiert waren, von denen nur 400 aufgerieben wurden. Wo sind die restlichen Terroristen geblieben? Sie sind wie in anderen Landesteilen mit weiteren bis zu 20.000 Kämpfern mit der irakischen oder syrischen Bevölkerung verschmolzen und warten, wie schon 2006, auf einen Neuanfang.

Wieso gelang es bis heute den mächtigen Koalitionen, Allianzen und den Abertausenden Anti-Daesh Kämpfern nicht, den Kalifen zu lokalisieren und festzunehmen – trotz eines Kopfgeldes von 25 Millionen USD, tot oder lebendig?  Weil al-Baghdadi äusserst gut lernte – er vermied die Fehler der Russen Basayev oder al Khattab, des Jordaniers Abu Musab al Zarqawi, des Saudi-Arabiers Osama bin Laden und des Irakers Saddam Hussein.    

Die Führungseliten des Daesh hatten langfristig vorgesorgt und früh ihre Schwerpunkte durch ihre größtenteils autonomen Provinzen auch in anderen Regionen der Welt  gesetzt – getreu ihres „The Islamic State International Expansionalist Project“ und analog zur These aus ihrem 2015er e-book „The Islamic State“[2], wonach niemand gehackt werden könne, der keine Website habe – so könne auch niemand jemals einen online-Sieg über den Daesh verkünden. Der kurdische Geheimdienstchef Lahur Talabany glaubt zu 99 Prozent, dass al-Baghdadi noch lebt und verglich die aktuelle Situation mit dem Aufstöbern eines Bienenschwarms: Mit der Zerstörung des Nestes werden die Bienen zwar vertrieben, doch sie kommen als Schwarm wieder. Man sollte immer im Blick haben, dass der Daesh nicht bloß ein Haufen fanatischer Freiwilliger und religiös-missionarischer Eiferer war und ist, sondern dass er von irakischen militärischen und nachrichtendienstlichen Elite-Offizieren des Hussein-Regimes aufgebaut und strukturiert, sowie mit  mit einem höchst effizienten gegenseitigen Überwachungssystem und einem eigenen Geheim- und Nachrichtendienst versehen worden ist („Daesh-Emni“). Das erklärt die nachrichtendienstliche Qualität und die langfristige Effizienz des Daesh.

Die Sinai-Provinz ist ein weiteres und wichtiges „Standbein“ des Daesh.[3] Sie erwuchs aus der ägyptischen Terrorgruppe Ansar Bait al-Maqdis (ABMB), die bereits im November 2014 dem Daesh-Kalifen die Treue schwor und unter dem neuen Namen eine Serie äusserst blutiger Anschlägen begann. Im Oktober 2015 reklamierte der damalige Anführer der Daesh-Provinz, Abu Osama al-Masri, den TNT-Anschlag auf den russischen Metrojet-Flug 9268 vom Flughafen Sharm El Sheikh nach St. Petersburg als sein mörderisches Werk: Alle 224 Menschen, Crew und Passagier, starben beim Absturz der Maschine, fast alle waren russische Staatsangehörige. Ziel des Anschlages war, Russland und Ägypten gegeneinander aufzuwiegeln.

Allein in den letzten drei Jahren fielen insbesondere in Nord-Ägypten bei Anschlägen des Daesh weit über 1.500 Menschen zum Opfer, viele Tausende wurden verletzt. Im internationalen Bewusstsein verankert dürfte dagegen eher die medial regelrecht vermarktete Köpfung der 21 koptischen Christen, Gastarbeiter aus Ägypten, gewesen sein, die am 15.05.2015 in Sirte, Libyen, verübt wurde – angeblich von der damals noch sehr starken libyschen Daesh-Provinz „Tripoli“.

Der bisher schlimmste Terroranschlag der jüngeren ägyptischen Geschichte war das Daesh-Massacker am 24.11.2017 an der sufistischen al-Rawdah-Moschee in Bir al-Abed im Nordwesten des Sinais, bei dem 311 Menschen, darunter 27 Kinder, ermordet und fast 130 verletzt wurden. Rund 30 Terroristen feuerten aus schweren Maschinengewehren, die auf  in fünf SUVs montiert waren, auf die Gläubigen und, wenig später, auch auf die Rettungssanitäter.[4]

Der bislang jüngste Anschlag (Stand 10.01.2018) galt am 29.12.2017 der Kirche Saint Mena in Helwan, 25 km südlich von Kairo, bei der 11 Christen getötet und fünft weitere schwer verletzt wurden. Er setzt die Serie der mörderischen Attacken gegen Christen und christliche Kirchen in Ägypten fort.[5]

Internationale Analysten[6] stellten beim Daesh wiederholt erstaunliche und profunde Intelligence-Fähigkeiten fest, das belegte  u.a. auch der Versuch, den ägyptischen Verteidigungsminister Sedki Sobhy zusammen mit dem Innenminister Magdy Abdel-Gaffar am 19.12.2017 auf dem Militärflughafen Al-Arish bei einem unangekündigten „Überraschungsbesuch“ zu ermorden. Der Anschlag mit einer Panzer-Abwehrrakete tötete zwar drei Personen und verfehlte auch nicht den Militärhubschrauber, jedoch hatten die beiden eigentlichen Zielpersonen diesen wenige Minuten zuvor schon verlassen – es blieb die bestürzende Erkenntnis, dass die Attentäter über extrem gute Insider-Informationen verfügt haben mussten.

Die Daesh-Provinz „Sinai“ mag zwar auch heute nicht sehr groß sein (man schätzt seine aktuelle Stärke auf etwas über 1.000 Mann ein), sie gilt aber als eine der wirksamsten und gefährlichsten Gruppe des Daesh. Das zeigt sich bei seinen jüngsten Infiltrations- und Expansionsbestrebungen in den Gazah-Streifen und seinen Aufrufen an die Palästinenser, sich gegen die Hamas zu erheben – nach all den Jahren, in denen eine äusserst fruchtbare und freundschaftliche Kooperation mit der Hamas gepflegt worden war. In einer win-win-Relation lieferte der militärische Flügel der Hamas, Ezaddin al-Qassam, die terroristische man-power (viele Daesh-Kämpfer dienten zuvor der Hamas oder dem palästinensischen Dschihad), der Daesh gewährleistete im Gegenzug die Waffenlieferungen in den Gazastreifen. Grenzkontrollen in Rafah waren allzu lange eher Farce, denn Kontrolle – trotz internationaler Unterstützung (auch von deutscher Seite) und insbesondere angesichts der evidenten und lange tolerierten Tunnelsysteme, durch die problemlos Waffen, Menschen und Nahrungsmittel geschmuggelt wurden. .

Das Video, das Anfang Januar 2018 die Erschießung eines seiner „Soldaten“, einem vermutlichen Doppelagenten und ex-Hamas-Kämpfer, zeigte, der als Menschen-/Waffenschmuggler und ungläubiger Apostat hingerichtet wurde, sollte wohl das Ende dieser Beziehung demonstrieren.[7] Hamas und Daesh sind zwei dschihadistische Terrorgruppen, die beide eine gemeinsame Strategie und Ideologie haben, nach der die Scharia etabliert und alle Ungläubige getötet werden sollen.[8]Und immer deutlicher lassen auch die palästinensische Autoritätsbehörde (PA), Ministerpräsident Abbas und die Staatsmedien ihre Masken fallen, demonstrieren ihren Hass auf Israel, preisen Attentate auf Israel und sogar auf christliche Priester als „heroisch“ und attackieren internationale Forderungen nach friedlichen Lösungen als „von Juden gekauft“.[9]

In naher Zukunft wird die neue Strategie des Daesh im Gaza-Streifen daher nicht nur für Ägypten zum erweiterten terroristischen Brennpunkt und damit zu einem Kernproblem werden, sondern insbesondere auch für Israel, das sich zunehmend, insbesondere nach Anerkennung Jerusalems als israelische Hauptstadt durch die US-Regierung und der von Hamas-Führer Ismail Hanija daraufhin ausgerufenen Intifada Ende 2017, gegen fast tägliche Luftangriffe aus dem Gazastreifen zur Wehr setzen und mit Gegenschlägen auf Waffendepots und Ausbildungslager antworten muss.[10] Trotz all dieser Erkenntnisse wird die Daesh-Provinz Sinai und die Hamas weiterhin international mit Geld und/oder Waffenlieferungen unterstützt, darunter sogar mit Raketen, die normalerweise nur nationale Armeen besitzen.[11]

Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, den Geldhahn zuzudrehen: Bis heute zahlt Israel (zusätzlich zu den transferierten Steuermitteln) für jeden der rund 6.000 in Israel einsitzenden oder getöteten/verwundeten palästinensischen Terroristen der Familie in Palästina für den Ausfall des Ernährers ein monatliches „Stipendium“ in Höhe von 2.000 USD (plus 300 USD für die Ehefrau plus 15 USD für jedes Kind) -im Verhältnis zu den ortsüblichen Einkommen geradezu luxeriös und nachgerade eine  Einladung zum Terroranschlag für den, der seine Familie versorgt wissen will.[12]

Ägypten wird weiter in die Defensive gedrängt[13] und muss sich zudem der wachsenden Bedrohung durch internationale Kräfte erwehren, die mit der Muslim Brotherhood paktieren, die in den meisten Staaten der Welt und erneut in Ägypten als Terrororganisation eingestuft und verfolgt wird. Dabei tun sich zunehmend Katar und vor allem die Türkei hervor, die auf der Suche nach alt-ottomanischer Größe Ende 2016 zu diesem Zweck sowohl mit Katar als auch mit dem Sudan Militärbündnisse abschloss undMilitärstützpunkte etablierte. Auf der anderen Seite wird die Türkei zunehmend Zielland der flüchtenden Daesh-Kämpfer aus dem „syrakischen„ Kalifat. Alleine im Dezember 2017 wurden fast 8.500 bei der illegalen Einreise in die Türkei festgenommen – wogegen nur 71 versuchten, illegal aus der Türkei auszureisen.  Angeblich sei in 2017 die Zahl  der aus Syrien fliehenden Daesh-Kämpfer um 30 % gestiegen. Die Türkei hat seit dem ersten bewaffneten Anschlag im März 2014 in Nidge[14] bis Mitte des vergangenen Jahres insgesamt 14 schwerste Anschläge erleiden müssen, bei denen 155 Menschen getötet und über 760 verletzt wurden[15]. Es scheint, dass die Türkei zum hauptsächlichen Ziel der versprengten Daesh-Gruppen, insbesondere seine „foreign terrorist fighters“ (FTF) wird. Nicht zuletzt der Daesh-Anschlag auf den Istanbuler Nachtclub „Reina“ während der Sylvesterfeier 2016/17 mit 39 Toten und 68 Verletzten hat eine deutliche, wenn auch verspätete Änderung der Anti-Terror-Politik Ankaras bewirkt: In der Folge wurden über 2.700 Verdächtige in 29 Städten festgenommen (darunter 350 Ausländer). Die Türkei hat dennoch viel zu leisten, um sich der neuen Bedrohung durch den islamistischen Terror zu erwehren.  

[1] Z.B.: https://southfront.org/turkish-state-run-media-accuses-assad-regime-of-cooperating-with-isis-against-opposition/

[2] „By not having a website, no one can hack it and claim an online victory,“ Quelle_  https://pjmedia.com/blog/isis-how-al-baghdadi-hides-in-plain-sight

[3] https://intelnews.org/2018/01/12/01-2249/?utm_source=feedburner&utm_medium=email&utm_campaign=Feed%3A+intelNewsOrg+%28intelNews.org%29

[4]http://edition.cnn.com/2017/11/25/africa/egypt-sinai-mosque-massacre/index.html

[5] Zur Erinnerung: Im Frühjahr 2017 waren bei Terroranschlägen am Palmsonntag auf die Markus-Kathedrale in Alexandria, dem Sitz des koptisch-orthodoxen Papst-Patriarchen Tawadros II., sowie auf die Georgs-Kirche in Tanta 45 Menschen getötet worden. Ende Mai ermordeten islamistische Terroristen bei einem weiteren Angriff auf einen mit koptischen Christen besetzen Bus nahe der Stadt Al-Minya mehr als 20 Menschen. Im November forderte ein Attentat auf muslimische Gläubige in einer Sufi-Moschee im nördlichen Sinai 311 Todesopfer (s.oben).

[6] Isreals Top-Terror-Analyst Amos Harel in Ha‘aretz, 26.12.2017

[7]  Das Video zeigt die Erschießung von Musa Abu Zmat durch  Mohammed Al-Dajni

Quelle: https://www.gatestoneinstitute.org/11713/isis-gaza-hamas

[8] https://www.gatestoneinstitute.org/11713/isis-gaza-hamas

[9] 13.01.2018 https://www.gatestoneinstitute.org/11742/the-palestinian-terror-party-celebrating-murder

[10]stellvertretend für viele Quellen: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-12/gazastreifen-israel-hamas-angriff-jerusalem

[11] Dr. Hafez Abu Saada, Secretary-General of the Egyptian Organization for Human Rights (EOHR) in:   http://www.7adramout.net/youm7/1659676.html

[12] Das durchschnittliche Einkommen im Gazastreifen liegt bei wenig über 700 USD, im Westjordanland (Westbank) bei wenig über 580 USD.

[13] Timothy Kaldas, a non-resident fellow at the Tahrir Institute for Middle East Policy, told CNN, that there would be two plausible motives for an ISIS attack. First, ISIS considers Sufis to be heretics, making the Sufi mosque a legitimate target in the eyes of ISIS, even though all worshippers probably weren’t Sufi.

Second, ISIS may be taking revenge against members of the Sawarkah tribe, to which most of the people in the area belong, because it has been cooperating with the Egyptian government in its campaign against Wilayat Sinai. Quelle: http://edition.cnn.com/2017/11/25/africa/egypt-sinai-mosque-massacre/index.html

[14] Zewntralanatolische Provinz, Der Anschlag mit AK-47 und Handgranaten forderte drei Tote, fünf Soldaten wurden schwer verletzt. Die gefassten Täter kamen aus Mazedonien (Muhammed Zekjiri), Deutschland/Albanien (Benjamin Xu) und Schweiz/Kosovo (Cendrim Ramadani)

[15] https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/01/turkey-syria-new-hub-of-salafi-jihadi-exodus.html?utm_campaign=20180109&utm_source=sailthru&utm_medium=email&utm_term=Daily%20Newsletter

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